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Titel: HWS Irgend wie kenne ich diese Leidens "Geschichte"
Verfasst am: 29.09.2003, 23:59 Uhr #74
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Anmeldung: 25. Sep 2003
Beiträge: 122
Wohnort: Berlin
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Unmöglich, so zu leben
Erfahrungen mit einem Schleudertrauma
Von Renata Huonker-Jenny
Ich habe das Schleudertrauma erlebt. Banal, wie es mir zugefügt wurde - im stehenden Auto vor einem Rotlicht durch den Aufprall eines Wagens von hinten -, und bizarr in seinen Auswirkungen auf das, was ich für die sichere Behausung meiner Person hielt: mein Körper-Ich.
Eben hatte ich im Rückspiegel einen Wagen ungebremst auf mich auffahren sehen, doch die Zeit bis zum Zusammenprall dauerte sehr lange. Monatelang haderte ich mit mir, weil ich das Unglück hatte kommen sehen, den Wagen aber nicht verließ, sondern gelähmt darauf gewartet hatte, attackiert zu werden. Darüber ärgerte ich mich, ungeachtet der Tatsache, daß eine Flucht aus dem Auto innerhalb von Sekundenbruchteilen unmöglich ist. Ein Therapeut erklärte mir später: Sie sind ausgestiegen, zwar nicht aus Ihrem Wagen, aber aus Ihrem Körper. Die archaische Fluchtreaktion des Säugetiers beherrschte im Unfallmoment mein Körper-Ich und ließ es tun, was Jahrmillionen allem Lebendigen als lebensrettend eingefleischt hatten: abhauen oder, falls nicht möglich, wenigstens fiktiv abhauen und sich totstellen.
Den jungen Mann, der in einem Moment der Unaufmerksamkeit die stehende Kolonne und mich im hintersten Wagen nicht bemerkt hatte, beschäftigte nach dem Aufprall vor allem die zerbeulte Motorhaube seines vom Kollegen ausgeliehenen Fahrzeugs. Es gab auch keinen Grund, sich anderweitig groß zu sorgen: Meinem Wagen war sichtbar nichts geschehen und ebensowenig anscheinend mir. Bloß der Kopf schmerzte. Nach einem Adressentausch fuhren wir unserer Wege. Meine Kraft reichte für den Heimweg. Dann fiel ich um. Ich hatte nur noch das Verlangen zu schlafen.
Während Wochen war Liegen mein Lebensinhalt. Alles andere war sehr mühsam. Der Kopf dröhnte. Er fühlte sich an, wie bis weit über die Schultern hinab in Beton gegossen. Bei aller Eisenschwere des Kopfes stieß im Körperinnern eine unheimliche Kraft nach oben, so daß in mir das Gefühl erzeugt wurde, meine Körpermasse würde verdichtet und schlage sich gewissermaßen von innen am eignen Schädeldach wund.
Von den Knien an gab es keine Verbindung mehr zum Boden. Gehen fühlte sich an wie Schweben. Ich mußte einen schwindelnden Körper quasi über das hohe Seil führen, wenn ein Weg mich vom Schlafzimmer in die Stube führte oder nach einigen Wochen erstmals wieder vors Haus. Der erste Rundgang im nahen Park erzeugte ein Siegesgefühl. Autonomie, oder vielmehr die Sehnsucht danach, trägt in einem verletzten Körper andere Namen als in der Welt der Bücher oder der freien Marktwirtschaft. Sitzen, Stehen, Gehen, Schlafen, Kraft haben, einen Moment lang an etwas teilhaben, was nicht mit Schmerz zu tun hat, das sind ihre Inhalte.
Der Schmerz kannte keine Pause, nur Variationen
Jedes Erwachen am Morgen ertastete sogleich den Schmerzgrad auf ein eventuelles Nachlassen, doch der Schmerz kannte keine Pause, nur Variationen. Obwohl der Unfall mich bei bester Gesundheit ereilt hatte, wurde das Gedächtnis an das normal schöne Körpergefühl beim zügigen Gehen oder Fahrradfahren sehr rasch blaß. Es war seltsam, solchen entschwindenden Erinnerungen nachzutrauern wie einer nahen, verstorbenen Person. Wie man den Hals hält, den Oberkörper dreht oder spontan den rechten vor den linken Fuß setzt, all dies verlangte plötzlich Überlegung, und zwar der intensiveren Art, da es Überlegungen sind, die nie bewußt gelernt wurden.
Angst hatte ich deswegen lange nicht, eher das Gefühl, das wir aus Alpträumen kennen: Bald ist der Morgen da, und mit dem Morgen wird alles wieder normal sein. Die Realität war anders. Der Morgen kam immer, aber die grausamen Kopfschmerzen waren auf die Dauer noch schwerer erträglich, die Beine versagten den Dienst immer endgültiger, die Hände ließen vieles fallen, die Arme wurden kraftloser.
Dann begann der Gedächtnisverlust. Zuerst belustigte es mich, als bis vor kurzem völlig gesunde Person in mittleren Lebensjahren plötzlich mit der Tragikomik eines unzuverlässigen Kurzzeitgedächtnisses konfrontiert zu sein. Ich äußerte mich betont zuversichtlich. Im Innern fühlte ich mich auf einen Schlag um 40 Jahre älter. Eine unsichere Person ging die Wände entlang, wich Passanten ängstlich, schreckgepackt bei plötzlichen lauten Geräuschen oder auch heim leisen schnellen Näherkommen eines Menschen oder Objekts. Der Tag, an dem ich Wasser aufsetzte, um Tee zu kochen, und unmittelbar danach zu Bett ging, alarmierte mich. Meine Gedächtnisverluste waren so real wie eine glühende Pfanne.
Geräusche waren ebenso schwer erträglich wie helles Licht. Unter normalen Umständen maßvoll unangenehme Töne verwandelten sich in quälende Schmerzquellen. Mein Gehör hatte gleichzeitig stark nachgelassen. Menschliche Stimmen erreichten mich, als läge ich unter zwei Metern Wasser.
Namen von nahestehenden Personen entfielen mir ebenso wie einzelne Wörter. Die Koordination der Worte im Mund war eine Willenshandlung geworden. Immerhin kehrte nach und nach ein bißchen Kraft zurück. Das ermöglichte außer selbständigen Therapiebesuchen auch Spaziergänge.
Die Stadt fiel mit ungebremster Intensität auf mich ein. Tram- und Busfahren, durch einen Bahnhof gehen: Grenzerlebnisse in meinem Alltag. Jedes Rütteln bewirkte mehr Schmerz, da die Schläge vom harten Boden ungebremst in den Kopf fuhren.
Irritierend und verletzend andererseits die Scheibe zwischen mir und meiner Umwelt, die sich durch das Schleudertrauma installierte: Nicht mehr viel ging mich etwas an. Die Schmerzen waren nun im ganzen Körper verteilt, bis in jeden Knochen fraßen sie sich im Lauf von Wochen und Monaten. Vielleicht waren der Schreck und der Schmerz auch sofort in alle Knochen gefahren, nur meine Wahrnehmung brauchte Zeit. Alpträume von Menschen mk zersetzten Gliedmaßen oder von Skeletten tauchten auf. Todesträume bevölkerten die Nächte. Eine Frau sehe ich im Spitalbett liegen. Sie sieht unverletzt aus. Da hebe ich das Leintuch über ihrem Körper und sehe einen Brustkorb aus Plastik, einen zerlegten Leib aus Knochenstücken und Geweberesten, mit Draht verknotet.
Eine gemeine Kraft will mich aus meinem Körper heben. Es gelingt ihr nicht. Sie stößt von innen an das Schädeldach und drückt das Hirn zusammen. Geräusche werden unerträglich. Dann beginnt der Gedächtnisverlust.
Während vieler Wochen will eine ganz gemeine Kraft mich aus dem eigenen Körper schieben. Es gelingt ihr nicht. Sie stößt am Schädeldach von innen an und drückt das Hirn zusammen. Sie verrückt die Sinnesorgane, die vertraute Eigenwahrnehmung.
Seit den Schmerzbeschreibungen aus den Lazaretten der europäischen Schlachtfelder des vergangenen Jahrhunderts ist dieser Vorgang bekannt. Unter starken Schmerzen und im Trauma findet eine Dissoziation statt. Das Körperschema löst sich auf, was auf verschiedene Arten geschehen kann. In der Nahtod-Erfahrung verläßt der Mensch den Körper vollständig, sieht seinen verletzten Leib von oben und betrachtet schmerzfrei oder sogar mit angenehmen Empfindungen, was auf der Unfallstelle vor sich geht; im Trauma bleibt die Verbindung zum verletzten Körper bestehen, doch vermutlich infolge des großen Schmerzes finden Verschiebungen des Körperschemas statt. Der Mensch bekommt das Gefühl, neben oder über sich selbst zu stehen, manchmal ist die Verbindung zu einem Körperteil unterbrochen oder besteht im Gegenteil als Phantomschmerz fort, obwohl der Körperteil amputiert wurde.
Erleichterung stellte sich ein, als ich davon hörte, daß auch andere Opfer eines Schleudertraumas vom Phänomen des Angehobenwerdens berichten.
Mein Körper-Ich war in der Senkrechten um etwa 15 bis 20 Zentimeter verschoben, was zu bizarren und auf Dauer einsam machenden Eindrücken führte. Das Trauma läßt einen vorsichtig werden, denn es ist ungewiß, wem man wieviel davon erzählen kann.
Die gewöhnlichen Worte tun ihren Dienst nur dann, wenn sie ein einfühlendes, vielleicht auch kreatives Gegenüber erreichen. Ich sprach in Vergleichen und Bildern oder schwieg.
Allmählich begann das Schleudertrauma mein Leben zu beherrschen - nicht nur wegen der zahlreichen Einbußen und Schmerzen, sondern auch wegen seiner sozialen Konsequenzen. Nach einem halben Jahr Arbeitsunfähigkeit wurde die Invaliditätsabklärung eingeleitet. Schulmedizinisch wirksame und anerkannte Behandlungsformen existieren nicht. Der sich nicht bessernde Zustand brachte Beunruhigung in meine Umgebung. Die Suche nach hilfreichen Körper-Therapien brachte rätselhafte Hinweise auf "Feldenkrais-Methode", "Alexander-Technik", "Atlaslogie" und - Gipfel des Unverständlichen - "Craniosacral-Therapie" und sollte mir Mut machen.
Doch die Versicherung lehnte diese Therapieformen ab, da sie im Versicherungsobligatorium nicht eingeschlossen sind.
Ich vertraute also vorderhand der Zeit und meinem Willen. Ich plagte meinen erstarrten und versteiften Körper mit langen Fußmärschen. Drei Paar Schuhe wurden innerhalb kurzer Zeit angeschafft, doch keines brachte die Sicherheit im Gehen zurück, nicht das hohe für guten Halt, nicht die Gesundheitsschuhe mit Fußbett, nicht die Sportschuhe mit Airwalksystem. Die Märsche halfen. Aber das unbelebte Körpergefühl bestand fort. Und nun blieb der Schlaf aus.
Der Schlaf wurde zum kostbaren Gut, das mir Nacht für Nacht unter dem Kopfkissen weggeraubt wurde. Die Familie als Lärmquelle bohrte im alarmierten Hirn, das keine Ruhe fand - weder durch Schlaf noch durch Schmerzmittel. Am ehesten noch durch Musik. Sie half mir, einen verlorenen Rhythmus zu ersetzen, den ich vorher nie wahrgenommen hatte, weil er immer da gewesen war. Musik hauchte dem Körper ersatzweise Leben und Gefühl ein.
Bestimmte Musik (Brahms' Requiem, Mozarts Waisenhausmesse, Zap Mama) lobe ich seither als schmerzstillendes Medikament, einige religiöse Texte (Psalmen; Exodus, Heilungsgeschichten) als Lebensmittel, ein paar Bücher (Keller, Bulgakow, Lenz) als stärkende Träume.
Im Lauf der Monate wuchs meine Verzweiflung. Die Zeit schien nichts oder nicht genug zu heilen. Der Druck im Kopf blieb unverändert. Im Physikbuch der Kinder schlug ich den Lehrsatz nach: Bewegungsenergie = Masse mal Geschwindigkeit im Quadrat geteilt durch zwei. Der Aufprall war mit 30 Stundenkilometern erfolgt, das Auto etwa eine Tonne schwer. Rechne. War es diese Energie, die meinen Kopf schier sprengte? Unmöglich, so zu leben.
Manchmal kam mir jede Zuversicht abhanden. Die Sehnsucht nach Hilfe; Furcht, nie mehr in den Beruf zurückkehren zu können; Verlangen nach ein paar Stunden Normalität. Angst, nie mehr ein Mensch wie alle andern zu sein. Hilfreich waren Menschen, die meine Schilderungen ernst nahmen und gleichzeitig den Gedanken aufrechterhielten, daß es ein Herauskommen gibt.
Nach sieben Monaten im moorigen Grund des Traumas erlebte ich durch die erfahrenen Hände eines Craniosacral-Therapeuten so etwas wie eine Sturzgeburt in den eignen Körper hinein. Nur schon diese Hände am Kopf zu fühlen. Was für eine Erlösung, daß endlich ein Mensch spüren konnte, was ich nur wenigen mitteilen mochte und am wenigsten selbst begriff. Diese verstehenden Hände entfernten den Selbstvorwurf; daß ja gar nichts geschehen sei und ich mir alles nur einbilde.
In einer Art netzartigen Elektrogewitters im Kopf entlud sich der immense Druck. Ich kam zu mir selbst zurück. Aus dieser Therapie kehrte ich anders nach Hause zurück, als ich hinging.
Die Beschreibung der Traumaauflösung ist ähnlich schwierig zu vermitteln wie die Traumaerfahrung. Am ehesten geschah dies: Der Therapeut horchte mit seinen Händen konzentriert in mich hinein. Mich berührt es zutiefst, daß Menschenhände das Ausmaß des Schocks in meinem Körper und des Drucks im Kopf erkennen und therapieren konnten, während noch die gegenwärtig besten Maschinen ein Schleudertrauma nicht registrieren, geschweige denn auflösen können.
Noch brauchen Körper und Seele Ruhe und Erholung. Die Genesung erweist sich, wenn auch unter anderem Vorzeichen, als ähnlich erschütternder Vorgang wie der Unfall. Es braucht Zeit, bis wieder Ruhe einkehrt im System von Körper, Seele und Geist. Auch für den Umkehrprozeß der Grenzerfahrung fehlen die selbstverständlichen Worte.
Quelle: der ZEIT Ausgabe Nr. 18 vom 29.4.1999
aus dem Stämpfli-Verlag, Bern, ISSN 1017-7620. |
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